In Ehrfurcht vor dem Genter Altar

In Ehrfurcht vor dem Genter Altar: Ein lang ersehnter Traum erfüllt sich

Am 1. September 2024 erfüllt sich für mich ein langersehnter Traum. Der strahlende Morgen in Gent, einer Stadt voller Geschichte, Kunst und kultureller Schätze, ist der perfekte Auftakt zu einem Moment, den ich seit vielen Jahren herbeigesehnt habe: das Angesicht des berühmten Genter Altars in der St.-Bavo-Kathedrale.

Bereits der erste Schritt in die Kathedrale lässt mich ehrfürchtig innehalten. Die gotischen Gewölbe, die Stille und das weiche Licht, das durch die bunten Glasfenster fällt, schaffen eine beinahe transzendente Atmosphäre. Der Genter Altar – oder „Der Altar des mystischen Lammes“ – ist ein Meisterwerk der Brüder Jan und Hubert van Eyck, das 1432 fertiggestellt wurde. Er gilt als eine der bedeutendsten Schöpfungen der Kunstgeschichte und zieht seit Jahrhunderten Kunstliebhaber und Historiker gleichermaßen in seinen Bann.

Das Meisterwerk in seiner vollen Pracht

Nach einem kurzen Gang durch das Kirchenschiff öffnet sich der Raum zu einer Kapelle, in der der Genter Altar steht. Es ist ein Moment purer Ehrfurcht, als ich das überragende Werk zum ersten Mal in seiner vollen Pracht erblicke. Das polyptychonartige Kunstwerk, das aus insgesamt 12 Tafeln besteht, entfaltet eine Erzählung von göttlicher Erlösung und universellem Glauben, die auf unnachahmliche Weise dargestellt ist.

Die zentralen Szenen, die das Lamm Gottes zeigen, das sich auf einem Altar befindet, werden umrahmt von Propheten, Aposteln, Heiligen und Märtyrern, die alle auf das Lamm hinblicken. Jede Figur, jedes Detail – von den fein gemalten Falten der Gewänder bis hin zu den minutiös ausgearbeiteten Landschaften – wirkt wie eine Einladung, in die Welt der Renaissance einzutauchen. Es ist, als würden die Grenzen zwischen Mensch und Göttlichem, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Der Genter Altar ist nicht nur ein Kunstwerk, sondern eine lebendige Botschaft von Glaube, Erlösung und Zeitlosigkeit.

Ein Kunstwerk, das den Lauf der Geschichte überlebte

Während ich vor dem Altar stehe, denke ich daran, wie knapp dieses Meisterwerk dem endgültigen Verlust entgangen ist. Der Genter Altar hat im Laufe seiner Geschichte zahlreiche Umwälzungen überstanden. Eine der dramatischsten Episoden ist der Raub durch die Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Im Zuge ihrer Plünderungen der europäischen Kunstschätze wurde der Altar 1942 gestohlen und ins Salzbergwerk Altaussee in Österreich gebracht, wo er neben anderen unbezahlbaren Kunstwerken versteckt wurde.

Es waren die berühmten Monuments Men, eine Gruppe von Kunsthistorikern und Soldaten der Alliierten, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, geraubte Kulturgüter wiederzufinden und zu bewahren. Unter Einsatz ihres Lebens spürten sie den Genter Altar in den letzten Tagen des Krieges auf und verhinderten seine Zerstörung. 1945 wurde das Meisterwerk an die St.-Bavo-Kathedrale zurückgegeben – ein Moment, der in die Geschichte der Kunstrettung einging.

Die Tragweite dieser Rettungsaktion ist mir in diesem Moment überdeutlich. Ohne den Mut und die Entschlossenheit dieser Männer wäre der Genter Altar vielleicht unwiderruflich verloren gegangen. Er wäre, wie so viele andere Kunstwerke, nur noch als verblassende Erinnerung in den Seiten der Geschichte vorhanden. Doch stattdessen steht er heute hier, vor mir, und erinnert nicht nur an die künstlerische Genialität der Brüder van Eyck, sondern auch an die Bedeutung des Kulturerbes, das es zu bewahren gilt.

Ein persönliches Erweckungserlebnis

Der Genter Altar ist nicht nur ein Kunstwerk von beispielloser Schönheit – für mich ist er ein Symbol für die tiefere Verbindung zwischen Kunst, Geschichte und Menschlichkeit. Mein Besuch am 1. September 2024 ist der Höhepunkt einer jahrelangen Sehnsucht. Schon als Kunststudent hatte ich die Bilder und Reproduktionen des Altars bewundert, unzählige Bücher über seine Entstehung und seine wechselhafte Geschichte verschlungen. Doch kein Bild, keine Erzählung konnte mich auf das vorbereiten, was ich nun erlebe.

In diesem Augenblick scheint die Zeit stillzustehen. Ich lasse meinen Blick über die Tafeln gleiten, entdecke immer neue Details, die der ursprünglichen Schönheit und Präzision der van Eycks entsprungen sind. Die Kraft dieses Kunstwerks liegt nicht nur in seiner künstlerischen Meisterschaft, sondern in seiner spirituellen Tiefe. Der Altar erzählt von der Menschheit, ihrer Suche nach Erlösung und dem ewigen Streben nach dem Transzendenten.

Ein Vermächtnis für die Zukunft

Beim Verlassen der St.-Bavo-Kathedrale fühle ich mich erfüllt von Dankbarkeit. Der Genter Altar hat nicht nur die Jahrhunderte überlebt, sondern auch politische und kriegerische Unruhen, Raub und Verfall. Er ist ein wahres Vermächtnis, das uns daran erinnert, wie zerbrechlich und zugleich beständig unser kulturelles Erbe ist. Dank der unermüdlichen Bemühungen der Monuments Men und vieler anderer Menschen, die sich dem Schutz von Kunst und Kultur verschrieben haben, können wir auch heute noch die Größe und Schönheit dieses Meisterwerks bewundern.

Es war ein Moment, den ich niemals vergessen werde – der Tag, an dem ich vor dem Genter Altar stand, in Ehrfurcht und mit tiefem Respekt vor den Geschichten, die er erzählt, und den Zeiten, die er überdauert hat. (cg)

St.-Bavo-Kathedrale, Gent
Besuch des Genter Altars möglich: Di – So, 10:00 – 17:00 Uhr
Eintritt: 12 €

Blog-Beitrag von: strassenblick Gent

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